2019
Der Berliner Ortsteil Westend ist Teil des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf und wurde ursprünglich als Villenkolonie nach dem Vorbild des gleichnamigen Londoner Stadtteils gegründet. In Westend befindet sich auch das Berliner Olympiastadion, das im Jahr 1936 für die Olympischen Spiele auf dem Gelände des Deutschen Stadions errichtet worden war. Charlottenburg und Westend wurden 1920 Teil von Berlin und erlebten in dieser Zeit einen starken Bedeutungs- und Popularitätszuwachs. Für die jüdische Bevölkerung in Berlin stand ein Wohnortwechsel in den Westteil der Stadt für einen sozialen Aufstieg. Obwohl schon vorher vereinzelt jüdische Familien in Charlottenburg zuhause waren, so zog der Großteil der Juden während dieser Phase in die Stadt. Lebten 1895 noch 4.678 Juden in der Stadt, so waren es 1910 bereits über 22.500 und 1933 sogar 27.000. Mit dem aufstrebenden jüdischen Bürgertum siedelten sich auch zahlreiche Kulturschaffende und Intellektuelle in Charlottenburg und Westend an. Mit dem Fotografen Erich Salomon, dem Architekten Pali Meller und der Tänzerin und Bildhauerin Oda Schottmüller sind drei von ihnen in diesem Band vertreten. Ohne sie wäre die kulturelle Blüte und die Einzigartigkeit von Berlin in den 1920er Jahren kaum denkbar.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich die Situation für die jüdische Bevölkerung jedoch grundlegend. Einige Familien konnten zwar in den 1930er Jahren Deutschland verlassen und fanden in den USA oder in Palästina eine neue Heimat. Viele aber mussten bleiben und überlebten die Herrschaft der Nationalsozialisten nicht. Sie wurden erschossen, vergast, von Ärzten ermordet, sie starben an den unmenschlichen Bedingungen in den Lagern oder nahmen sich das Leben, um nicht deportiert zu werden. Über 56.000 Berliner Juden fanden den Tod. In Berlin-Westend erinnern heute rund 120 Stolpersteine an die Opfer der Nationalsozialisten.
1
Pali Meller
Knobelsdorffstraße 110 · Berlin-Westend
Pali Meller wurde am 1902 im ungarischen Sopron geboren. Er studierte Architektur in Wien, Stuttgart, Rom und Karlsruhe und war als Mitarbeiter von Otto Bartning am Entwurf und Bau der Gustav-Adolf-Kirche in Berlin-Charlottenburg beteiligt. Seit 1929 lebte Pali mit seiner Frau Petronella und den Kindern Paul und Barbara in der Knobelsdorffstraße 110.
Nachdem seine Frau im Jahr 1935 bei einem Autounfall starb, verlor Pali Meller den Schutz, den ihm die Ehe mit einer Nicht-Jüdin gegeben hatte. Er fälschte den „Ariernachweis“, wurde jedoch im Februar 1942 denunziert, verhaftet und ins Zuchthaus Brandenburg-Görden gebracht. Dort starb er am 31. März 1943 an Entkräftung. Seine Tochter und sein Sohn wuchsen bei der Haushälterin Franziska Schmitt auf und überlebten den Krieg. Im Jahr 2012 erschienen im Klett-Cotta-Verlag unter dem Titel „Papierküsse“ Briefe, die Pali Meller aus der Haft an seine Kinder geschrieben hatte.
Text: Nadia (13)
2
G. Goldschmidt, C. L. Fischer, J. Magnus
Meerscheidtstraße 13–15 · Berlin-Westend
Gertrud Goldschmidt wurde 1869 in Berlin geboren und wohnte mit ihrer Tochter Charlotte in der Meerscheidtstraße 13-15. Im Jahr 1942 wurde sie zunächst in die Sammelstelle Gerlachstraße gebracht. Am 3. Oktober wurde sie vom Güterbahnhof Moabit ins Ghetto Theresienstadt nahe Prag deportiert und verstarb dort nach weniger als sechs Monaten an einer Lungenentzündung.
Charlotte Luise Fischer wurde 1893 in Berlin geboren und war die Tochter von Gertrud Goldschmidt. Sie wurde am 19. Oktober 1942, ungefähr zwei Wochen nach ihrer Mutter, ebenfalls vom Güterbahnhof Moabit deportiert. Anders als Gertrud brachte sie der Zug aber ins Ghetto Riga, wo sie drei Tage nach der Ankunft erschossen und in einem Massengrab verscharrt wurde.
Julius Magnus wurde im Jahr 1867 in Berlin geboren. Er war promovierter Jurist und einer der bekanntesten Anwälte in Berlin. Um der Judenverfolgung in Deutschland zu entgehen, flüchtete er 1939 ins niederländische Amsterdam, wo er jedoch nach dem deutschen Einmarsch aufgegriffen und interniert wurde. Vom Lager Westerbork aus wurde er am 14. September 1943 ins Konzentrationslager Bergen-Belsen und dann weiter ins Ghetto Theresienstadt gebracht. Rund 200 Menschen überlebten diese Zugfahrt nicht, Magnus gehörte zu den 75 Überlebenden. In Theresienstadt hielt er den unmenschlichen Bedingungen aber nicht lange stand und verstarb am 15. Mai 1944.
Text: Merle (16)
3
Familie Salomon
Hölderlinstraße 11 · Berlin-Westend
Erich Salomon wurde 1886 in Berlin geboren und studierte Maschinenbau sowie Rechtswissenschaften in München und Berlin. Das Jurastudium schloss er 1913 mit der Promotion ab und heiratete in der Folgezeit die 1889 in Rotterdam geborene Maggy Schüler. Das Paar bekam zwei Söhne, Otto Erich und Dirk.
Als in den 1920er Jahren das Familienvermögen aufgrund der Inflation schrumpfte, gründete Salomon ein Taxiunternehmen und war selbst als Fahrer tätig. Seine wahre Berufung aber fand er in der Fotografie. Sein Auftreten im Frack und seine kleine Ermanox-Kamera mit lichtstarkem Objektiv erlaubten es ihm, bei Gerichtsverhandlungen, Konferenzen und anderen gesellschaftlichen Ereignissen ohne den damals üblichen Blitz und ohne Stativ zu fotografieren.
Er reiste beruflich nach Großbritannien, in die Schweiz und in die USA, wo er als erster Fotograf Bilder im Weißen Haus anfertigen durfte. Erich Salomon hat den Begriff „Bildjournalist“ geprägt und gilt heute als einer der einflussreichsten Fotografen seiner Zeit.
Die Familie emigrierte 1933 in die Niederlande und konnte dort zunächst unbehelligt leben. Nach der deutschen Besetzung wurde sie jedoch 1943 denunziert und verhaftet. Zunächst brachte man Sie ins Internierungslager Westerbork, im Januar 1944 erfolgte dann der Transport ins Ghetto Theresienstadt. Von dort aus wurde die Familie im Mai 1944 ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert und ermordet. Das Todesdatum von Erich und von Maggy Salomon ist für den 7. Juli 1944 verzeichnet, Sohn Dirk starb am 28. Februar 1945. Der ältere Sohn Otto Erich Salomon konnte nach Großbritannien fliehen und entkam der Verfolgung. Unter dem Pseudonym Peter Hunter wurde er später ebenfalls ein erfolgreicher Fotograf.
Text: Emma (13)
4
Oda Schottmüller
Reichsstraße 106 · Berlin-Westend
Oda Schottmüller wurde 1905 in Posen geboren und wuchs in Danzig auf. Nach dem Abitur an der Odenwaldschule in Hessen absolvierte Oda eine kunsthandwerkliche Ausbildung in Pforzheim und Frankfurt am Main. 1929 zog sie nach Berlin und studierte Bildhauerei. Ihre Leidenschaft galt aber dem Tanz. Ab 1934 trat sie regelmäßig solistisch mit meist tragischen Choreografien auf. Dabei nutze sie selbst entworfene Masken und Kostüme und thematisierte gesellschaftliche Fragen. Durch ihre Bekanntschaft zu Kurt Schumacher kam Oda Schottmüller Ende der 1930er Jahre in Kontakt mit dem Widerstandskreis um Harro Schulze-Boysen. In diesem Zirkel wurden künstlerische und politische Fragen erörtert und Aktionen gegen das NS-Regime geplant. Im September 1942 wurde Oda Schottmüller mit rund 120 weiteren Personen festgenommen.
Die Gestapo bezeichnete die Gruppe als „Rote Kapelle“ und warf ihr vor, eine von Moskau gesteuerte Spionagezelle zu sein. Oda Schottmüller wurde zum Tode verurteilt und am 5. August 1943 in Berlin-
Plötzensee hingerichtet.
Text: Ivette (16)
5
Familie Hess
Reichsstraße 106 · Berlin-Westend
Arthur Hess wurde 1872 in Amsterdam geboren, war Prokurist und kam um die Jahrhundertwende nach Berlin, um eine Stelle beim Ullstein-Verlag anzutreten. 1901 heiratete er die gebürtige Berlinerin Gertrud Engelmann und die beiden bekam die Kinder Lilly, Willy und Maria. Im Jahr 1910 zog die Familie in eine Villa in Berlin-Zehlendorf. Arthur Hess war ab 1914 einer der Verlagsdirektoren bei Ullstein, wurde aber nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung zwangspensioniert. Dabei war ihm eine großzügige Abfindung in Höhe von 150.000 Reichsmark zugesagt worden, diese wurde jedoch später auf 42.000 Reichsmark reduziert. Aus diesem Grund zog die Familie 1935 in die Mietwohnung in der Reichsstraße 106 und musste die Villa zu sehr günstigen Konditionen an den Sicherheitsdienst der NSDAP vermieten. Später wurde Arthur Hess „ausgebürgert“ und die Immobilie fiel mit dem gesamten Familienbesitz an den Staat.
Er und Gertrud kamen zunächst in ein Sammellager und wurden im Oktober 1941 ins Ghetto Łódz deportiert. Dort starben beide an den katastrophalen Bedingungen, Arthur am 9. März 1942, Gertrud am 23. April 1942.
Text: Ivette (16)
6
Familie Beutler
Theodor-Heuss-Platz 2 · Berlin-Westend
Alfred David Beutler wurde 1892 in Reichenbach im Vogtland geboren. Er studierte Medizin in Freiburg und Berlin. 1924 entschied sich Beutler, nach Berlin zu ziehen und fand eine Anstellung als Assistenzarzt im
Klinikum im Friedrichshain. Dort verliebte er sich in die ebenfalls jüdische Ärztin Käthe Italiener. Käthe wurde 1896 in Berlin geboren und hatte Medizin an der Friedrich-Wilhelms-Universität studiert. 1925 heirateten die beiden und Alfred eröffnete eine Praxis für Innere Medizin und Radiologie. Zwei Jahre später folgte Käthe mit einer eigenen kinderärztlichen Praxis am Theodor-Heuss-Platz 2. Das Paar bekam die Kinder Friedrich, Ernst und Ruth.
Mit der Machtmachtübernahme der Nationalsozialisten 1933 verlor Käthe jedoch ihre kassenärztliche Zulassung und die Schule ihrer Kinder wurde von den Nationalsozialisten geschlossen. In der Folge entschied sich die Familie, Deutschland zu verlassen. Im Jahr 1935 gelang es ihnen, in die USA umzusiedeln. In Milwaukee konnten Alfred und Käthe nach kurzer Zeit eigene Praxen eröffnen und wieder als Mediziner arbeiten. Der Enkel von Alfred Beutler, Bruce Beutler, ist heute ein bekannter Immunologe und Genetiker. Er hat im Jahr 2011 der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin verliehen bekommen.
Text: Cosima (16)