2023
Schon kurz nach dem Wahlsieg der NSDAP und der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler im Jahr 1933 wurden viele einschneidende Veränderungen vorgenommen, die die Demokratie der Weimarer Republik schrittweise abschafften. In wenigen Wochen wurde ein „Führerstaat“ etabliert, in dem das Parlament und die Gewaltenteilung aufgelöst, die Macht allein auf eine Person übertragen, andere politische Parteien verboten sowie die Verfassung und somit grundlegende Rechte wie die Versammlungs- und Pressefreiheit außer Kraft gesetzt wurden.
Mit dem Machtantritt der NSDAP wurden alle Bereiche von Staat und Gesellschaft nach dem „Führerprinzip“ umgebaut. In Hamburg wurde das Amt des Reichsstatthalters eingeführt, mit dem Ziel, die Reichspolitik auf hamburgischer Ebene umzusetzen. Dieses Amt wurde von Karl Kaufmann besetzt. Durch die Zusammenführung diverser Kompetenzen in Kaufmanns Position lag die politische Macht in seinen Händen, wodurch er die politische Gleichschaltung vollständig durchsetzen konnte.
Neben den politischen Änderungen folgte auf den Machtantritt der Nationalsozialisten die Ausgrenzung und Verfolgung verschiedener Teile der Bevölkerung. Auch in Hamburg wurden viele Gruppen von den Nationalsozialisten verfolgt, aus der Gesellschaft verdrängt und später deportiert, vertrieben, in den Suizid getrieben und/oder ermordet. Von den Menschen, die infolgedessen allein in Hamburg ums Leben kamen, sind 8.877 namentlich bekannt. Die Gesamtzahl wird jedoch auf etwa 10.000 geschätzt.
Seit 2002 erinnern die Stolpersteine auch in Hamburg, seit 2004 im Stadtteil Wandsbek, an die Schicksale dieser Menschen.
1
Anna Karberg
Josephstraße 10 · Hamburg-Wandsbek
Anna Karberg wurde am 11.06.1913 als jüngstes von fünf Kindern geboren. Bereits im jungen Alter wurden bei ihr „epileptische Anfälle leichter Art“ festgestellt, woraufhin sie am 06.12.1919 in den damaligen Alsterdorfer Anstalten aufgenommen wurde. Am 16.08.1943 wurde Karberg mit 227 weiteren Frauen und Mädchen aus den Alsterdorfer Anstalten in die Wagner-von-Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt in Wien verlegt. Bei ihrer Aufnahme wog sie 44 kg, ein Jahr später nur noch 35 kg. Die Wiener Anstalt verfasste einen Meldebogen, in dem es hieß, dass Karberg keinen Besuch erhalte, bettlägerig und „unverwertbar“ (frühere Bezeichnung für arbeitsunfähig) sei. Die Einstufung als arbeitsunfähig galt zumeist als ausschlaggebend für die Tötung von Patientinnen und Patienten. Am 12.12.1944 starb Anna Karberg im Alter von 32 Jahren. Als angebliche Todesursache wurden eine Lungenentzündung sowie Lungentuberkulose angegeben.
Weitere 195 Mädchen und Frauen aus den Alsterdorfer Anstalten kamen in Wien ums Leben. Die Wiener Anstalt war im Rahmen der „Aktion T4“ in den Jahren 1939-1941 Zwischenanstalt der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. In Wien kam es jedoch auch nach 1941 durch Überdosierung von Medikamenten, Nichtbehandlung von Krankheiten, vor allem jedoch durch Nahrungsentzug zu weiteren Tötungen.
Text: Anna (15), Darya (15), Elisa (15), Kira (15)
2
Ida & Max Fränkel
Schloßstraße 108a · Hamburg-Wandsbek
Ida Fränkel wurde 1878 in Bamberg geboren und heiratete den Kaufmann Jacob Fränkel, mit dem sie nach Wandsbek zog. Jacob Fränkel war als Einzelhändler auf Kleidung spezialisiert und besaß die Firma Gebr. Behr, ein Geschäft für Herrenkonfektion und Schuhwaren. In Wandsbek bekam das Paar drei Kinder: Martha, Hertha und Max. Nach dem Machtantritt veranlassten die Nationalsozialisten Maßnahmen, um die Familie Fränkel schrittweise aus dem gesellschaftlichen Leben zu verdrängen. Im April 1933 wurde das Familiengeschäft Opfer eines Boykotts. Im Zuge des Pogroms im Jahr 1938 wurden Jacob und Max Fränkel verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen eingewiesen, wo sie bis Anfang Dezember und Anfang Januar inhaftiert blieben. Zu Beginn des Jahres 1939 wurde das Geschäft der Familie zwangsweise geschlossen. Im März wurden die Lagerbestände zu einem Bruchteil ihres Wertes verkauft und die Firma aufgelöst. Auch privat wurde die Familie zur Abgabe wertvoller Gegenstände und zum Umzug in eine kleinere Wohnung gezwungen.
1941 (6 Monate nach dem Tod von Jakob Fränkel) wurden Martha und ihre Familie deportiert und in Chelmno ermordet. Am 06.12.1941 wurden Ida und Max Fränkel nach Riga deportiert und dort ermordet.
Hertha Winster und ihre Familie überlebten, da sie bereits im August 1939 in die Vereinigten Staaten auswanderten.
Text: Anh (15), Elif (15)
3
Gustav Delle
Schloßstraße 60 · Hamburg-Wandsbek
Gustav Delle, geboren 1880 in Botnang/Kreis Stuttgart in Württemberg, fand in der Stadt Wandsbek eine neue Heimat. Der gelernte Maler trat im Jahr 1911 in die SPD ein und war zunächst als Stadtverordneter tätig. Seit 1919 hatte er die Position eines besoldeten Stadtrats und Dezernenten für das Wohlfahrtswesen inne und kandidierte im Jahr 1931 erfolgreich für das Amt des Zweiten Bürgermeisters der Stadt Wandsbek.
Die Nationalsozialisten konzentrierten sich nach ihrem Machtantritt zunächst auf die „Ausschaltung“ politischer Gegnerinnen und Gegner. So wurde Gustav Delle bereits am 06.03.1933 für 14 Tage im Konzentrationslager Fuhlsbüttel inhaftiert. Bei der Wahl des Zweiten Bürgermeisters im April 1933 wurde Delle, der den Posten bis dahin innehatte, übergangen und die Position mit einem NSDAP-Politiker besetzt. Wenig später wurde Delle unter Anwendung des Gesetzes zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ unehrenhaft aus dem Dienst entlassen.
Das gescheiterte Attentat auf Adolf Hitler am 20.07.1944 nutzen die Nationalsozialisten als Vorwand, um die „letzten“ politischen Gegnerinnen und Gegner – so auch frühere Oppositionelle – im Rahmen einer reichsweiten Verhaftungswelle („Aktion Gewitter“) zu „beseitigen“. Infolgedessen wurde Gustav Delle am 22.08.1944 festgenommen und im Konzentrationslager Neuengamme inhaftiert. Dort musste er sich Experimenten mit reinem Salicyl unterziehen und wurde körperlich misshandelt. Durch die Intervention eines Bekannten wurde Gustav Delle am 01.11.1944 entlassen. Er erholte sich jedoch nie von den erlittenen Qualen und starb im April 1945 an den Folgen seiner Gefangenschaft. Heute erinnert ein Stolperstein vor dem Bezirksamt Wandsbek (Schloßstraße 60) an sein Schicksal.
Text: Franz (15), Matin (15)
4
Ernst (Friedrich Wilhelm) Reichenberg
Schloßgarten 32/34 · Hamburg-Wandsbek
Ernst Reichenberg wurde am 31.12.1905 in Hamburg geboren. Er arbeitete als kaufmännischer Angestellter. Reichenberg wurde aufgrund seiner sexuellen Orientierung vom 14.01. bis 25.02.1938 und vom 13. bis 16.05.1941 im Konzentrationslager Fuhlsbüttel in polizeiliche „Schutzhaft“ genommen. Am 16.05.1941 wurde er in das Untersuchungsgefängnis Holstenglacis 3 eingeliefert, um hier auf den Beginn seines Prozesses wegen Verstoßes gegen § 175 RStGB und § 185 RStGB vor dem Hamburger Amtsgericht zu warten. Am 31.05.1941 unternahm er einen Selbstmordversuch, an dessen Folgen er am 01.06.1941 im Zentrallazarett des Untersuchungsgefängnisses starb.
Der Paragraf 175 RStGB wurde im Jahr 1871 im Deutschen Kaiserreich eingeführt und stellte „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern unter Strafe. Auch in der Weimarer Republik bestand die Strafvorschrift fort. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde das Vorgehen gegen homosexuelle Männer massiv verschärft: Im Januar 1933 setzten strenge Verfolgungsmaßnahmen gegen Homosexuelle ein, ab dem Jahr 1935 konnten jegliche „unzüchtige“ Handlungen – selbst Blicke – bestraft werden. Mit der Gründung der „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“ im Jahr 1936 wurde die Verfolgung institutionalisiert. Höhepunkt der Strafverfolgung waren die Jahre 1936 bis 1939, in denen rund 30.000 Männer – hauptsächlich zu Freiheitsstrafen – verurteilt wurden.
In den Jahren 1933 bis 1945 fand die stärkste Verfolgung von Homosexuellen in der deutschen Geschichte statt: Über 50.000 Männer wurden von der NS-Justiz verurteilt. 10.000 bis 15.000 Männer wurden in Konzentrationslager deportiert, von denen mehr als die Hälfte nicht überlebte.
Text: Demet (16), Helen (16), Julia (15), Lorena (15)
5
Dr. Emil Hartogh
Claudiusstraße 20 · Hamburg-Wandsbek
Emil Hartogh wurde am 24.03.1875 in Amsterdam geboren. Vermutlich stammten seine Eltern aus jüdischen Familien, er selbst war evangelisch. Mit 18 Jahren verließ Hartogh die Niederlande und begann ein Medizinstudium an der Universität Heidelberg. Sein Studium absolvierte er im Oktober 1898 mit dem Erhalt der Doktorwürde in der Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe. Daraufhin zog er nach Hamburg, wo er zunächst in einem Krankenhaus arbeitete.
Seine erste eigene Praxis eröffnete Hartogh 1904/1905 in Wandsbek. Im Jahr 1906 heiratete er Anna Louise Bargfeld-Roterberg. Nach deren Tod ging Hartogh seine zweite Ehe mit Elsa Pabst ein.
Im Jahr 1933 wurde Dr. Emil Hartoghs Praxis boykottiert und anschließend auf einem antisemitischen Flugblatt gelistet. Auf ihn wurde weiterhin Druck ausgeübt, sodass er sich 1936 dazu entschloss, Haus und Grundstücke zu verkaufen. Zum 30.09.1938 wurde Ärztinnen und Ärzten jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft (damit auch Hartogh) die Approbation entzogen und somit ein Berufsverbot erteilt. Am 11.11.1938 unternahm Hartogh seinen ersten Selbstmordversuch. Knapp drei Wochen später nahm er sich durch eine Morphiuminjektion sowie durch die Einnahme von Tabletten das Leben. Heute erinnert ein Stolperstein in der Claudiusstraße 20 an ihn. Dieser trägt irrtümlicherweise ein falsches Todesdatum.
Text: Alva (15), Enise (15), Lejla (15), Saron (16)