2020
Schöneberg ist heute ein Berliner Stadtteil im Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Im Jahr 1920 wurde die bis dahin eigenständige Stadt Teil von Berlin und blieb bis 2000 ein eigener Bezirk. In den 1920er Jahren profitierte auch Schöneberg davon, dass für die jüdische Bevölkerung Berlins ein Wohnortwechsel in den Westteil der Stadt einen sozialen Aufstieg und höheres Ansehen bedeutete. Zu Beginn der NS-Herrschaft 1933 lebten in Schöneberg über 16.000 Juden, das waren 7,35% aller Einwohner im Bezirk.
Ein besonders berühmter Schöneberger wohnte in der Haberlandstraße im Bayerischen Viertel: zwischen 1917 und 1932 war der berühmte Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein hier zu Hause. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten sah er sich gezwungen, Deutschland für immer zu verlassen. In dieser Zeit änderte sich die Situation für die jüdische Bevölkerung grundlegend. Juden wurden aus dem öffentlichen Leben gedrängt, es wurde ihnen verboten, ihre Berufe auszuüben. Einige konnten Deutschland verlassen und fanden in den USA oder in Palästina eine neue Heimat. Viele aber mussten bleiben und überlebten die Herrschaft der Nationalsozialisten nicht.
Als Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Februar 1943 seine berühmte Rede im Schöneberger Sportpalast hielt und zum „Totalen Krieg“ aufrief, war die Vernichtungsmaschinerie längst in vollem Gang. Juden und andere Minderheiten wurden erschossen, vergast, von Ärzten ermordet oder starben an den unmenschlichen Bedingungen. Einige nahmen sich das Leben, um nicht deportiert zu werden. Über 56.000 Berliner Juden fanden den Tod. In Berlin-Schöneberg erinnern heute 688 Stolpersteine an die Opfer der Nationalsozialisten.
1
Jüdische Richter
Elßholzstraße 30–33 · Berlin-Schöneberg
Die Stolpersteine vor dem Kammergericht Berlin erinnern an neun Richter jüdischer Herkunft, die hier bis zum Machtantritt der Nationalsozialisten tätig waren. Ihre Geschichten spiegeln vielfach den sozialen Aufstieg und beruflichen Erfolg von Juden in der Weimarer Republik wider und beginnen häufig im Osten Europas. So wurde Max Fabisch in Strelno/Strzelno geboren, Friedrich Nothmann in Gleiwitz/Gliwice, Otto Rosanes und Alfred Orgler in Breslau/Wrocław, Sigismund Samoje in Graudenz/Grudziądz und Martin Toeplitz in Crone an der Brahe/Koronowo.
Nach absolviertem Jurastudium und Referendariat waren sie zunächst an Amts- und Landgerichten tätig, bevor sie ihre Stelle am Berliner Kammergericht antraten. Viele von Ihnen galten als exzellente Juristen und hatten hervorragende Referenzen vorzuweisen.
So wurde Sigismund Samoje noch 1932 intern als „ausgezeichneter Jurist“ eingeschätzt und als Präsident in den 28. Zivilsenat berufen. Friedrich Nothmann bescheinigte man eine „überragende Befähigung zum Richteramt“ und berief ihn in den 2. Strafsenat.
Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von 1933 wurden diese Karrieren jäh unterbrochen. Ab sofort konnten Juden und Regimekritiker aus dem öffentlichen Dienst entlassen werden. Für die jüdischen Richter bedeutete das zunächst Zwangsbeurlaubung, anschließend Frühpensionierung oder Berufsverbot. Berthold Lehmann, Jakob Felix Naumann und Max Spittel gehörten zu den wenigen, die aufgrund ihrer langen Zugehörigkeit zum Staatsdienst vorerst am Kammergericht bleiben konnten. Nach der Verkündung der „Nürnberger Gesetze“ im Jahr 1935 mussten aber auch sie gehen.
Zwischen 1941 und 1944 wurden alle hier genannten Richter von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet. Max Fabisch kam mit dem „55. Alterstransport“ nach Theresienstadt, Berthold Lehmann, Jakob Felix Naumann, Friedrich Nothmann, Alfred Orgler und Otto Rosanes wurden nach Auschwitz gebracht. Sigismund Samoje und Max Spittel mussten den Zug Richtung Riga besteigen und wurden in den umliegenden Wäldern erschossen.
2
Familie Traub
Gleditschstraße 55 · Berlin-Schöneberg
Erich Salomon Ferdinand Efraim Traub und Rosa Schmidl stammten aus Ungarn. Sie heirateten 1897 in ihrer damaligen Heimat, Rosa nahm den Nachnamen Traub an und das Paar zog 1902 nach Berlin. Hier wurden ihre zwei Söhne Alfred und Edmund geboren. Die Familie zog mehrfach innerhalb der Stadt um, bis sie 1915 die Wohnung in der Gleditschstraße 55 bezog. Nachdem sich die Bedingungen für Juden in Deutschland unter den Nationalsozialisten immer weiter verschlechtert hatten, mussten sie im Juni 1940 zwangsweise in die Kyffhäuserstraße umziehen. Ihr Sohn Alfred Traub zog im Frühjahr 1941 in die nun verwaiste elterliche Wohnung zurück, wurde von dort jedoch von den Behörden abgeholt und am 28. März 1942 nach Piaski nahe Lublin deportiert. Von dort kam er nach Majdanek, wo er im Sommer 1942 ermordet wurde.
Ferdinand und Rosa Traub wurden am 17. März 1943 nach Theresienstadt deportiert. Die Bedingungen dort überlebten sie nicht, Ferdinand starb am 27. März, Rosa am 4. August des Jahres 1943. Sohn Edmund konnte bereits 1938 nach Australien fliehen und überlebte den Holocaust.
3
Familie Weltmann
Gleditschstrasse 50 · Berlin-Schöneberg
Anna Goldberg wurde im Jahr 1902 in einem kleinen Dorf im heutigen Ostpolen geboren. Um 1930 kam sie nach Berlin und heiratete den aus Rumänien stammenden Schneider Karl Weltmann. 1932 kam der gemeinsame Sohn Arthur zur Welt und die Familie bezog 1936 die Wohnung in der Gleditschstraße 50. Gegen Ende der 1930er Jahre wurde die Ehe geschieden, Anna nahm fortan ihren Geburtsnamen Goldberg an und nannte sich hebräisch „Chana“.
Karl Weltmann musste die gemeinsame Wohnung verlassen und zog ins belgische Antwerpen. Im Sommer 1942 wurde er dort festgenommen und zunächst zur Zwangsarbeit eingeteilt. Einige Monate später wurde er nach Auschwitz deportiert und dort vermutlich ermordet. Chana Goldberg und ihr Sohn Arthur wurden am 18. Oktober 1941 ins Ghetto Lodź deportiert. Sie wurden vom Sammellager Levetzowstraße zum Bahnhof Grunewald geschafft und mussten dort den Zug besteigen. Am 8. Mai 1942 ging es für sie weiter ins Vernichtungslager Chelmno, dort wurden sie ermordet. Chanas Untermieter Arnold Mamlok ereilte das gleiche Schicksal.
4
Julian Rotholz
Barbarossastraße 4 · Berlin-Schöneberg
Julian Rothholz wurde am 18.03.1915 in Graudenz/Grudziądz geboren. Die Familie zog bald nach Berlin, Julian besuchte die Volksschule und ab 1925 die Mittelschule der jüdischen Gemeinde. Er absolvierte eine zehnmonatige Kaufmannlehre, entschied aber anschließend, sich zum Bäcker ausbilden zu lassen. In diesem Beruf war er in den frühen 1930er Jahren tätig. 1936 musste er seine Stellung jedoch aufgeben, da es Juden nicht mehr gestattet war, in der Lebensmittelbranche zu arbeiten. Er schlug sich in der Folgezeit als Hausdiener in einer Polsterfabrik durch.
Von Juni 1938 bis Januar 1939 war er im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. Seine Freilassung erfolgte unter der Bedingung der Auswanderung. Julian Rothholz versuchte daraufhin, per Schiff Shanghai zu erreichen. Dies war die letzte Möglichkeit für Juden, Deutschland legal zu verlassen. Doch sein Plan scheiterte, da ihn die notwendigen Unterlagen zu spät erreichten. Das rettende Schiff legte ohne ihn ab. Er war fortan als Gartenarbeiter tätig, im September/Oktober 1941 wurde er jedoch wieder verhaftet und ins Konzentrationslager Mauthausen gebracht. Dort unternahm er am 12.02.1942 einen Fluchtversuch, bei dem er erschossen wurde.
5
Karl Olbrysch
Goltzstraße 13 · Berlin-Schöneberg
Karl Olbrysch wurde 1902 in Essen geboren. Wie sein Vater wurde er Bergmann und trat mit 19 Jahren der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei. 1929 wurde der politische Hoffnungsträger in die Berliner Stadt Stadtverordnetenversammlung gewählt, ab Juni 1932 saß er als Abgeordneter im Reichstag. Nach der Wahl im März 1933 wurde ihm jedoch das Mandat entzogen, alle Parteien außer der NSDAP mussten sich auflösen. Karl Olbrysch war bereits ein halbes Jahr zuvor untergetaucht, wurde jedoch bei einem Treffen mit KPD-Funktionären festgenommen. Monate später wurde er wieder freigelassen, als Gegenleistung sollte er der Gestapo Informationen von geflohenen Kommunisten aus der Tschechoslowakei liefern. Er hielt sich nicht an diese Verpflichtung, wurde aber dennoch aus der KPD ausgeschlossen.
Nach der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei floh Olbrysch nach Großbritannien und wurde dort als „feindlicher Ausländer“ interniert. 1940 wurde er an Bord der „Andorra Star“ gebracht, um in ein Internierungslager nach Kanada verlegt zu werden. Das Schiff wurde jedoch am 2. Juli 1940 von einem deutschen U-Boot torpediert und sank. Die Hälfte der Menschen an Bord ertrank, unter ihnen auch Karl Olbrysch.
6
Familie Scherl
Goltzstraße 35 · Berlin-Schöneberg
Niche Zanger wurde 1895 in Schmiedeburg (heute Nowy Żmigród) geboren. Sie zog nach Berlin und heiratete 1918 den Möbelhändler Julius Scherl. Das Paar bekam drei Kinder: den Sohn Simson und die Töchter Pia und Rita. Sie bezogen eine Wohnung in der Goltzstraße 35, das Geschäft von Julius Scherl befand sich im Erdgeschoss. Er verkaufte dort Möbel, Antiquitäten, Teppiche und Klaviere. Niche achtete sehr auf ihre Gesundheit und machte in der Wohnung täglich Turnübungen. Ihr Sohn Simson war ein begeisterter Fußballspieler, verfügte aber auch über musikalisches Talent und brachte sich selbst das Klavierspielen bei.
In der Reichspogromnacht 1938 wurde Julius Scherls Möbelgeschäft verwüstet. Von diesem Schlag erholte er sich nicht mehr und starb einige Monate später an einem Herzinfarkt. Das Geschäft führten nun Niche und Sohn Simson.
Zu Beginn der 1940er Jahre mussten die beiden aus der Wohnung in der Goltzstraße ausziehen und lebten für kurze Zeit in der Winterfeldtstraße 34. Am 27. November 1941 wurden beide mit dem „VII. Transport“ nach Riga deportiert. Unmittelbar nach ihrer Ankunft am 30. November 1941 wurden sie dort ermordet.
Die Töchter der Familie Scherl konnten Deutschland noch rechtzeitig verlassen und überlebten den Holocaust. Rita wurde 1938 mit einem Kindertransport nach Großbritannien geschickt und wanderte nach dem Krieg nach Israel aus. Sie starb im Jahr 2015. Pia ist 1939 aus Berlin geflohen und 1940 mit der Jugendalija auf dem Schiff „Hilda“ nach Palästina ausgewandert. Sie lebt in Tel Aviv und hat im Jahr 2020 ihren 98. Geburtstag gefeiert.
7
Familie Borchardt
Pallasstraße 12 · Berlin-Schöneberg
Franziska Pasmantier wurde 1889 in Warschau geboren. Ihre Familie siedelte nach Berlin um und Franziska heiratete 1920 den acht Jahre älteren und bereits geschiedenen Kaufmann und Fabrikbesitzer Jacques Borchardt. Das Paar bekam die Kinder Helmut Michael, Lilli Flora und Irene und lebte in einem Einfamilienhaus in der Villenkolonie Nikolassee im Bezirk Zehlendorf.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Jacques Borchardt enteignet und verlor seine Wollwarenfabrik. Er arbeitete daraufhin als Vertreter, Franziska als Sekretärin, die Familie bezog eine Wohnung in der Pallasstraße in Berlin-Schöneberg.
Wie viele Eltern versuchten auch Borchardts, zunächst ihren Kindern die Ausreise aus Deutschland zu ermöglichen – in der Hoffnung, ihnen bald folgen zu können. Im Mai 1939 gelangte die jüngste Tochter Irene mit einem der Kindertransporte nach Großbritannien und wuchs dort bei einer Familie in Midhurst auf. Der Rest der Familie wollte bald folgen, aber durch den Beginn des Zweiten Weltkrieges war dies nicht mehr möglich.
Im Juni 1941 wurde Familie Borchardt gezwungen, ihre Wohnung in der Pallasstraße zu verlassen und in zwei Zimmern zur Untermiete bei der Fotografin Edith Löwenthal zu wohnen. Die Kinder Lilli und Helmut durften zu dieser Zeit nicht mehr zur Schule gehen. Helmut wurde zur Zwangsarbeit eingezogen und war unter anderem als Spinner bei den Siemens-Schuckertwerken tätig, Lilli musste als Erntehelferin in Brandenburg arbeiten.
Am 24. Juni 1942 wurden Jacques Borchardt und sein Sohn Helmut nach Minsk deportiert. Sie kamen zwei Tage später in der weißrussischen Hauptstadt an und wurden zu der Exekutionsstätte Maly Trostinec gebracht, wo sie vermutlich erschossen wurden.
Am 19. Oktober 1942 wurden Franziska Borchardt und ihre Tochter Lilly nach Riga deportiert. Unmittelbar nach der Ankunft am 22. Oktober wurden die beiden in den umliegenden Wäldern ermordet.
8
Familie Lippmann
Pallasstraße 5 · Berlin-Schöneberg
Betty Schilibowski wurde im Jahr 1912 in Köln geboren und kam in den 1930er Jahren nach Berlin. Sie heiratete den fünf Jahre älteren Berliner Hans Lippmann, das Paar bekam 1938 den einzigen Sohn Peter und zog in die Pallasstraße 5. Die Ehe wurde kurz nach der Geburt jedoch geschieden und Betty lebte mit Peter fortan in einer anderen Wohnung zur Untermiete.
Hans Lippmann war im kommunistischen Widerstand aktiv. Um nicht verhaftet oder deportiert zu werden, tauchte er 1941 unter. Fortan verbrachte er die Sommer in einem Zelt in der Nähe von Potsdam, im Winter hielt er sich in einem Keller versteckt. Unter zur Wehrmacht eingezogenen Freunden verteilte er Flugblätter des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD), in denen zum Sturz Hitlers aufgerufen wurde. Am 5. September 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet und am 24. November im Konzentrationslager Sachsenhausen erschossen.
Am 6. März 1943 wurden Betty und ihr noch nicht ganz fünf Jahre alter Sohn Peter Lippmann nach Auschwitz verschleppt und dort nach der Ankunft ermordet.