2017
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Charlottenburg zu einer florierenden Stadt. Obwohl schon vorher vereinzelt jüdische Familien in der Stadt zuhause waren, so zog der Großteil der Charlottenburger Juden während dieser Phase in die Stadt, die erst 1920 Teil von Berlin wurde. Lebten 1895 noch rund 4.600 Juden in der Stadt, so waren es 1910 bereits über 22.500 und 1933 sogar 27.000. Der Wohnortwechsel stand damals symbolisch für einen sozialen Aufstieg des jüdischen Bürgertums, der sich auch innerhalb Berlins in einer Westwanderung niederschlug. Ohne die jüdischen Kaufleute, Künstler und Intellektuellen wäre der Aufschwung Charlottenburgs und die kulturelle Blüte der zwanziger Jahre kaum denkbar.
In Charlottenburg wohnten und wirkten zahlreiche berühmte Persönlichkeiten jüdischer Herkunft. Der Philosoph Walter Benjamin, die Schriftstellerin Else Ury, der Fotograf Erich Salomon, oder die Dichterin Mascha Kaléko – sie alle waren in Charlottenburg zu Hause. Einige von ihnen konnten ins Ausland fliehen. Vor allem nach der Machtübernahme Hitlers 1933, nach den „Nürnberger Gesetzen“ 1935 sowie nach dem November-Pogrom von 1938 gab es Auswanderungswellen. Viele aber mussten bleiben und überlebten die Herrschaft der Nationalsozialisten nicht. Knapp 6.200 Charlottenburger Juden fanden den Tod: Sie wurden erschossen, vergast, von Ärzten ermordet, sie starben an den unmenschlichen Bedingungen in der Lagern oder nahmen sich das Leben, um nicht deportiert zu werden. Im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf erinnern heute über 3.000 Stolpersteine an die Opfer der Nationalsozialisten.
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Erich Gross
Pestalozzistraße 99a · Berlin-Charlottenburg
Erich Gross wurde 1894 in Debrzno in Westpreußen geboren. 1936 zog er aufgrund der Judenverfolgung nach Berlin um und betrieb dort zwei Jahre lang einen Großhandel für Lebensmittel. Im Dezember 1938 heiratete er Gertrud Croner, die einen Konfektionsladen in Oberschöneweide besaß, der jedoch während der Reichspogromnacht geplündert und zerstört wurde. Ab 1941 musste das Ehepaar Zwangsarbeit leisten: Gertrud bei Siemens und in der Batteriefabrik Zeiler, Erich als Hilfsschweißer bei der Firma Nordland. Im November 1942 tauchten sie unter und versuchten, in Verstecken der Deportation zu entkommen. Erich Gross wurde jedoch auf der Straße erkannt, denunziert und verhaftet. Man brachte ihn in die ehemalige Synagoge Levetzowstraße, die nun als Sammellager genutzt wurde. Am 6.3.1943 wurde er von dort ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Noch 1943 erfolgte die zweite Deportation ins Konzentrationslager Mittelbau-Dora. Das genaue Todesdatum von Erich Gross ist nicht bekannt. Gertrud Gross konnte dank Helfern bis Kriegsende in der Illegalität überleben. Sie wanderte 1950 in die USA aus und verstarb im Jahr 2000 in San Francisco.
2
Gertrud Keil + Synagoge
Pestalozzistraße 14 · Berlin-Charlottenburg
Gertrud Robert wurde 1902 in Ulm geboren. Ihre Familie kam ursprünglich aus Grudziadz im heutigen Polen und siedelte um 1890 nach Ulm um, wo Vater Hermann Robert ein Warenhaus betrieb, bis er 1916 in eine Nervenklinik eingewiesen werden musste. In den Folgejahren zog Gertrud nach Berlin um. Im Jahr 1936 heiratete sie Max Keil, das Paar bekam ein Jahr später die Tochter Ruth. Das Ehepaar betrieb zu dieser Zeit eine Schuhmacherei, die jedoch während der Reichspogromnacht zerstört wurde. Max Keil wurde nur zwei Tage später, am 11. November 1938 verhaftet und im KZ Sachsenhausen inhaftiert, wo er bis Januar 1939 blieb. Nach seiner Entlassung bezog die Familie eine Wohnung in der Pestalozzistraße 14 und feierte im Januar 1940 die Geburt von Tochter Chana. Im selben Jahr wurde Gertruds Vater Hermann im Zuge des Euthanasie-Programms der Nationalsozialisten in Grafeneck ermordet. Die Gestapo holte die Familie Keil am 16. Oktober 1942 ab und brachte sie ins Sammellager Levetzowstraße. Drei Tage später wurden sie nach Riga deportiert und dort am 22. Oktober ermordet. Einzig Harry, Max Keils Sohn aus erster Ehe, wurde von seiner christlichen Mutter vor der Deportation bewahrt und überlebte den Krieg.
Synagoge Pestalozzistraße
Die Synagoge im Hinterhof der Pestalozzistraße 14 wurde 1911 als Vereinssynagoge erbaut. Ab 1915 wurde sie offizielle Synagoge der Berliner Jüdischen Gemeinde. Während der Pogromnacht von 1938 wurde der Bau in Brand gesetzt, aber von der Feuerwehr gelöscht, da man ein Übergreifen der Flammen auf andere Gebäude befürchtete. Nach dem Brand fanden keine Gottesdienste mehr statt, ab 1941 wurde die Synagoge teilweise als Wäscherei genutzt. Das im Krieg unbeschädigt gebliebene Haus konnte 1947 zum jüdischen Neujahrsfest wieder eingeweiht werden. Bis zum Jahr 2000 war hier der berühmte Oberkantor Estrongo Nachama aktiv.
3
Kurt Singer + Kulturbund Deutscher Juden
Mommsenstraße 56 · Berlin-Charlottenburg
Kurt Singer wurde als Sohn eines Rabbiners 1885 in Kościerzyna im heutigen Polen geboren. Er verbrachte seine Jugend in Koblenz und studierte Medizin, Psychologie und Musikwissenschaften. 1908 legte er die Promotion zum Dr. med. ab und begann anschließend, an der Berliner Charité als Nervenarzt zu arbeiten. In den Folgejahren verfasste er Musikkritiken und gründete 1913 den Berliner Ärztechor. 1923 wurde er Professor an der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik, in den späten zwanziger Jahren war er Intendant der Städtischen Oper Berlin. Im Zuge der Diskriminierungen gegen Juden wurde er jedoch 1932 von der Musikhochschule entlassen. 1933 gründete er den Jüdischen Kulturbund als Dachverband für jüdische Künstler, die nach der Machtergreifung der Nazis massenhaft arbeitslos geworden waren. 1938 emigrierte er in die Niederlande, wurde aber nach der deutschen Besatzung 1943 im Durchgangslager Westerbork inhaftiert und wenig später ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dort starb Kurt Singer am 7.2.1944 an den Haftbedingungen.
Kulturbund Deutscher Juden
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 bedeutete eine rasche Verdrängung von Juden aus dem Kulturbereich. Der Kulturbund wurde von Kurt Singer gegründet, um ein unabhängiges jüdisches Kulturleben aufzubauen. 1935 hatte der Bund, zu dem mehr als 36 regionale und lokale Kulturbünde gehörten, rund 70.000 Mitglieder. In großen Städten wie Berlin fanden täglich Kulturveranstaltungen des Bundes statt und boten jüdischen Künstlern und Kulturschaffenden auch weiterhin Erwerbsmöglichkeiten.
Die Nationalsozialisten genehmigten die Gründung des Kulturbundes zunächst und ließen ihn von der Gestapo überwachen. Sie erhofften sich eine Isolation und die bessere Überwachung der jüdischen Künstler. Nach der Pogromnacht von 1938 mussten die meisten Kulturbünde ihre Arbeit einstellen. Der Berliner Kulturbund konnte seine Arbeit eingeschränkt wieder aufnehmen, wurde aber 1939 aufgelöst. Die Nachfolgeorganisation „Jüdischer Kulturbund in Deutschland“ bestand noch bis 1941.
4
Charlotte Salomon
Wielandstraße 15 · Berlin-Charlottenburg
Charlotte Salomon wurde 1917 in Berlin geboren. Ihre Kindheit war vom Selbstmord ihrer Mutter im Jahr 1926 geprägt. Vater Albert heiratete vier Jahre später die Sängerin Paula Lindberg, zu der Charlotte in den Folgejahren eine sehr enge Beziehung aufbauen konnte. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten musste Charlotte die Fürstin-Bismarck-Schule in der Sybelstraße wegen antisemitischer Anfeindungen verlassen und besuchte zunächst eine private Kunstschule. 1936 wurde sie an der Kunsthochschule in Charlottenburg immatrikuliert, musste diese aber schon Herbst 1937 wegen antisemitischer Übergriffe verlassen. Sie floh im Februar 1939 nach Villefranche-sur-Mer in Südfrankreich zu ihren Großeltern. Vater Albert Salomon und Stiefmutter Paula Lindberg-Salomon setzten sich im gleichen Jahr nach Amsterdam ab und überlebten den Krieg in verschiedenen Verstecken in den Niederlanden. Die Bemühungen, als Familie in die USA zu emigrieren, scheiterten. Charlotte heiratete im Juni 1943 in Nizza den österreichischen Emigranten jüdischer Herkunft Alexander Nagler, das Paar wurde aber noch im selben Jahr denunziert und verhaftet. Sie kamen zunächst ins Sammellager Drancy und wurden von dort nach Auschwitz deportiert, wo beide ermordet wurden. Die Künstlerin schuf vor der Deportation in den Jahren 1940 – 1942 den heute vielbeachteten Werkzyklus „Leben? Oder Theater?“, der 2012 auf der documenta 13 in Kassel zu sehen war.
5
Else Neuländer-Simon
Schlüterstraße 45 · Berlin-Charlottenburg
Else Ernestine Neuländer wurde im Jahr 1900 in Berlin geboren. Sie absolvierte eine Fotografie-Ausbildung und im Alter von 25 Jahren eröffnete sie ihr erstes Fotoatelier. Unter dem Künstlernamen „Yva“ erlangte sie rasch Bekanntheit und konnte Veröffentlichungen bei großen Verlagen und bei bedeutenden Magazinen vorweisen. Den Schwerpunkt ihrer Arbeit bildeten Werbefotografien für Kleidung, hierfür nutzte sie häufig künstlerische Techniken wie die Mehrfachbelichtung. Zu Beginn der dreißiger Jahre zog Yva in das Atelier in der Schlüterstraße 45 und beschäftigte zeitweise bis zu zehn Angestellte, unter ihnen auch der später berühmt gewordene Fotograf Helmut Newton. 1934 heiratete Yva den Kaufmann Alfred Hermann Simon. Aufgrund der Ausgrenzung von Juden im öffentlichen Leben und der Arbeitswelt musste Else Neuländer-Simon 1936 die Leitung des Ateliers an ihre nichtjüdische Freundin Charlotte Weidler abgeben. Ab 1938 durfte sie nicht mehr als Fotografin arbeiten und war als Röntgenassistentin beschäftigt, ihr Ehemann wurde zur Zwangsarbeit eingezogen. Das Ehepaar musste auch die große Wohnung in der Schlüterstraße aufgeben. Am 1.6.1942 wurden beide verhaftet und zwölf Tage später ins Vernichtungslager Sobibór deportiert. Ihr genaues Todesdatum ist nicht bekannt.
6
Hugo Berendt
Grolmanstraße 27–28 · Berlin-Charlottenburg
Hugo Berendt war ein angesehener Charlottenburger Anwalt und Notar. Er wurde 1892 in Rogoźno im heutigen Polen geboren. Obwohl seine Familie jüdisch-orthodox war, war er selbst nicht religiös. Nach dem Jurastudium heiratete er die 16 Jahre jüngere Ruth Jacoby und das Paar bezog die Wohnung in der Grolmanstraße 28. Im Jahr 1933 folgte die Geburt der Tochter Anita. Ab 1938 durfte Hugo Berendt aufgrund seiner jüdischen Herkunft nicht mehr als Rechtsanwalt arbeiten. Die Familie war gezwungen, die Wohnung aufzugeben und zur Untermiete in der Mommsenstraße zu wohnen. Hugo Berendt überzeugte seine Frau und Tochter, nach den Novemberpogromen von 1938 in der Schweiz zu bleiben, wo sie sich zufällig aufhielten. Er selbst würde bald nachkommen. Aber es war bereits zu spät. Alle Anstrengungen, Hugo die Auswanderung oder Flucht zu ermöglichen, scheiterten. Er musste bei der Firma Nordland Zwangsarbeit leisten. 1943 tauchte er unter, wurde aber noch im selben Jahr verhaftet und am 10.9.1943 nach Auschwitz deportiert. Vermutlich wurde er dort nach der Ankunft ermordet. Seine Frau Ruth und die Tochter Anita überlebten den Krieg in der Schweiz und wanderten 1946 in die USA aus.
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Emma Gumz
Knesebeckstraße 17 · Berlin-Charlottenburg
Emma Gumz betrieb mit ihrem Ehemann Franz eine Wäscherei im Hinterhof der Knesebeckstraße 17. Franz Gumz stand der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas nahe und lehnte den Nationalsozialismus offen ab. Zu den Kunden der Wäscherei gehörten neben Berliner Behörden und Offizieren auch zahlreiche jüdische Familien. Im Jahr 1933 entwickelte sich aus der Bekanntschaft mit Ella Deutschkron und ihrer Tochter Inge eine enge Freundschaft. Emma Gumz sah die zunehmende Diskriminierung von Juden und versuchte, ihren jüdischen Freunden zu helfen und ihnen den Alltag zu erleichtern, zum Beispiel mit Obst und anderen Lebensmitteln. Als sie 1943 von Soldaten über die Judenvernichtung hörte, überredete sie die Deutschkrons, den Judenstern abzunehmen und versteckte sie im Keller der Wäscherei. Mutter und Tochter konnten in diesem und später anderen Verstecken überleben und emigrierten 1946 nach Großbritannien. Franz Gumz verstarb noch 1945 an einem Nierenleiden. Emma Gumz betrieb die Wäscherei bis zu ihrem Tod im Jahr 1981 weiter, sie wurde 1971 als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet.
Gerechte unter den Völkern
In Israel wurde 1948 dieser Titel eingeführt, um nichtjüdische Menschen zu ehren, die sich während des Nationalsozialismus selbst in Gefahr brachten, um Juden zu helfen. Voraussetzungen für die Anerkennung sind der Nachweis einer konkreten Aktion unter Einsatz persönlichen Risikos und die nichtjüdische Abstammung der Helfer. Zudem dürfen sie für ihre Taten keine Gegenleitung verlangt haben. Bis heute sind über 25.000 Personen als Gerechte unter den Völkern anerkannt, davon 569 Deutsche.